Leseproben


 

Der Bauer Paternoga hatte auf einem freien Gelände, nicht weit von dem Haus in dem die Herzogs wohnten, Ziegen und Schafe weiden lassen. Den herumliegenden „Rosinen“ konnte Klein-Rudi nun gar nicht wiederstehen, und im Handumdrehen stopfte er sich damit den Mund voll. Lies, die gerade noch rechtzeitig dazukam, holte mit ekelverzerrtem Gesicht behende einen großen Teil der Ziegenkekel aus Rudis Hamsterbacken hervor. Else, die sich totlachen wollte, bekam eine von ihr geschmiert.

Später einmal erfuhr Mutter Elisabeth von der Petze Else davon, und die arme Lies wurde von Muttern bestraft. So langsam verschwand bei Lies die Freude an ihrem kleinen Bruder, und der Erfolg war, dass jeder sich über den anderen bei Mutti beschwerte und Rudis Vokabular mit „olle Zicke“ bereichert wurde.

Nun war es Spätsommer im zweiten Kriegsjahr 1916 geworden. Vater Otto war in der USPD – das war eine unabhängige sozialistische Partei Deutschlands, sie stand zwischen SPD und KPD.

Das Haussymbol im großen Goldrahmen, der von Otto gefertigt war, zeigte in der Mitte das Bild von Karl Liebknecht, das liebevoll mit Stickereien umrandet war. Elisabeth hatte folgenden Spruch in gotischen Buchstaben in verschiedenfarbigem Kreuzstich in mühsamer Kleinarbeit gestickt, und drumherum waren die Worte mit Girlanden und zwei roten Fahnen in Schlingstich gearbeitet:

 

Nicht betteln nicht bitten

trotz Kerker und Joch,

nur mutig gestritten

die Wahrheit siegt doch!

 

Rudi hatte das Bild immer vor Augen, wenn er in seinem Gitterbettchen lag.

 

Wie groß allgemein die Not war, hauptsächlich in der Inflationszeit, beschreibt, dass Otto auf Drängen von Elisabeth auf dem Hängeboden – das ist ein kleiner Raum über der Speisekammer mit Öffnung zur Toilette hin mit einem Klappfenster versehen, das durch eine lange Eisenstange mit Griff, stehend auf der Klosettbrille, geöffnet und geschlossen werden konnte – einen Hühnerstall bauen musste.

Diese drei Hühner brachten Herzogs Eier und fraßen außer Körnern den Kalk von den Wänden. Es passierte auch einmal, dass bei geöffnetem Fenster ein Huhn im Gleitflug im Hinterhof landete. Da alle drei Hühner einen Namen hatten und auch darauf hörten, war es leicht, das verschreckte Tier wieder einzufangen.

Als sie jedoch schlachtreif wurden und auch keine Eier mehr legten, war keiner in der Familie bereit, die Tiere zu töten – geschweige denn zu essen. Trotz der großen Not wurden die Hühner lieber Onkel Paul, der im gleichen Haus gegenüber wohnte und eine große Familie zu ernähren hatte, geschenkt.

 

Bei einer Veranstaltung in der Volksbühne am Karl-Liebknecht-Platz, später Horst-Wessel-Platz, wo die Druckerei „Rote Fahne“ war, gab es das Bühnenstück „Die roten Matrosen von Cattaro“, wo im Schlussbild der meuternde Matrose die rote Fahne schwenkte. Sodann erhoben sich die kommunistischen Gewerkschaftsgenossen, um „Die Internationale“ anzustimmen.

Es gab eine schreckliche Schlägerei, die sich über den ganzen Platz hinwegwälzte und in den U-Bahnen und Bahnhöfen fortgesetzt wurde. Rudi nahm nie wieder an einer Gewerkschaftsversammlung teil.

Auch führte diese Uneinigkeit der sogenannten Arbeiterparteien zu dem Debakel der Republik. Die Nazis hatten mit all ihren Argumenten ein leichtes Spiel, und nach und nach gewann man die Überzeugung, dass man auf dem falschen Dampfer saß. Dazu kam nach den fünf Millionen Arbeitslosen der Zerfall des Handwerks und somit des Mittelstandes.

 

Langsam verdichtete sich das Gerücht, dass die deutsche Wehrmacht Russland angreifen wollte, was keiner glauben konnte.

Russische Scharfschützen schossen aus dem Hinterhalt auf jeden Mann mit Explosivgeschossen, die nach dem Eindringen in den Körper explodierten. Es war grausam mit anzusehen, wie ein Kamerad von Rudi solch Geschoss in den Rücken bekam und das Innere freigelegt wurde. Für solche Fälle blieb immer die letzte Patrone im Revolver, auch falls man in russische Gefangenschaft kommen sollte.

 

Remagen, am Ufer des Rheins, mit ausgedehnten Wiesen, völlig aufgeweicht, bot als Gefangenenlager einen schrecklichen Anblick (Anmerkung: siehe Luftaufnahme rechts).

Mit seinen Halbschuhen war Rudi besonders schlecht dran und wurde als Zivilist von den uniformierten Gefangenen, in der Annahme ein Parteibonze zu sein, schief angeguckt. Als er nun noch einem ehemaligen Zahlmeister begegnete – mit einer Raucherkarte in der Hand durch den Dreck staksend, fragend, wo es Zigaretten gäbe – bekam Rudi es mit der Angst zu tun, hier bei längerem Aufenthalt entweder auch eine Macke zu bekommen oder verprügelt zu werden.